Projekt Thomas oder die Sprache der Philippinen

Armin Möller, Lipa, Philippinen. Februar 2003


Zusammenfassung

Der Verfasser legt dar, dass das vor 100 Jahren begonnene Projekt, Englisch als Unterrichts-, Amts- und Handelssprache in den Philippinen ("Projekt Thomas") einzuführen, gescheitert sei und dem Lande und seinen Menschen erhebliche Nachteile gebracht habe. Er fordert daher ein Umdenken zu einer eigenständigen Nationalsprache ("Projekt Wika") und lädt deutsche Sprachwissenschaft und Auslandsarbeit ein, dazu Vorarbeiten zu leisten. Erste Vorschläge werden gemacht, wie erfolgreich Hilfe aus Deutschland geleistet werden könnte, ohne sich aggressiv und konfrontativ aufzudrängen.

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung: Hundert Jahre Projekt Thomas in den Philippinen

2. Sprachen in den Philippinen vor Projekt Thomas
3. Sprachen in den Philippinen nach einhundert Jahren Projekt Thomas

4. Auswirkungen des Projektes Thomas auf die Schülerleistungen
5. Gesellschaftliche Auswirkungen des Projektes Thomas
6. Wirtschaftliche Auswirkungen des Projektes Thomas
7. Kulturelle Auswirkungen des Projektes Thomas

8. Eine Bewertung nach 100 Jahren Projekt Thomas
9. Die Nutznießer von Projekt Thomas
10. Die Benachteiligten von Projekt Thomas
11. Gewinner und Verlierer bei Projekt Thomas

12. Argumente für die Weiterführung von Projekt Thomas
13. Projekt Wika statt Projekt Thomas
14. Deutschland und Projekt Wika

15. Nachwort: Der Verfasser und die Sprachen
Anmerkungen



1. Hundert Jahre Projekt Thomas in den Philippinen

Im Jahre 2001 hatte das Projekt Thomas sein hundertjähriges Jubiläum. Dieses im Jahr 1901 begonnene Projekt Thomas war und ist eines der größten Erziehungsprogramme in der Welt. Weite Kreise sind von seiner Richtigkeit und Notwendigkeit überzeugt, so dass sie das Projekt fortgeführt sehen möchten. Trotzdem wurden keine Hundertjahrfeiern begangen, ja, das ganze Jubiläum wurde vergessen oder totgeschwiegen. Was ist nun diese Projekt Thomas?

Im Jahre 1901 landete in den Philippinen der aus den Vereinigten Staaten kommende Dampfer "Thomas" mit etwa sechshundert amerikanischen Lehrern. Diese Lehrer werden in den Philippinen als Thomaner (in Englisch "Thomasianer", {101}) bezeichnet und wir benutzen den Namen Projekt Thomas. Die Ankunft ereignete sich wenige Jahre nach der Beendigung der dreihundertfünfzigjährigen spanischen Kolonialherrschaft über die Philippinen im Jahre 1898 [{102}. Das Land erhielt damals einen neuen Kolonialherren, die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Vereinigten Staaten waren zu dieser Zeit eine der wenigen Großmächte, die keine Kolonien besaßen. Sie waren selbst aus einer Kolonie entstanden und hatten im 19. Jahrhundert Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung in ihrem eigenen Land entwickelt und verwirklicht. Andererseits fehlte es ihnen an Erfahrung, wie man mit weniger entwickelten Völkern umzugehen habe.

Einige weitsichtige amerikanische Politiker hatten bereits längere Zeit zuvor die die strategische Bedeutung der Philippinen auf dem Weg von Amerika zum Fernen Osten erkannt. Im Zeitalter der Dampfschiffe machte eine Stützpunktbrücke von Kalifornien über Hawai, Guam und den Philippinen nach Hongkong und anderen fernöstlichen Zentren strategischen Sinn. Deshalb war man an den Philippinen interessiert und nutzte die Schwäche der Spanier aus, um in deren Kolonie Philippinen die Macht zu übernehmen. Dass dies der Beginn einer Kolonialherrschaft über eines der größeren Völker Asiens bedeutete, hatte man in Washington kaum bedacht und geplant. Man war dort offenbar überrascht, plötzlich Herr über so viele Millionen kleiner, braunhäutiger Menschen geworden zu sein.

Der amerikanische Commodore Dewey hatte 1898 das Land (oder zumindest die Hauptstadt und ihre Umgebung) unter seine Herrschaft gebracht, und die Vereinigten Staaten hatten im Pariser Vertrag im Dezember 1898 die Philippinen offiziell von Spanien abgekauft. Die Amerikaner legten Wert darauf, dort ihre Souveränität auszuüben und wollten dies in einer amerikanischen humanen Art und Weise erreichen. Eines ihrer wichtigsten und auch wirkungsvollsten Programme war die Einführung eines allgemeinen Grundschulsystemes im ganzen Land. Es soll hier betont werden, dass dieses Projekt gewaltigen Fortschritt für die Philippinen gebracht hat. Noch heute ist die Grundschule eines der saubersten und ordentlichsten Gebäude in jedem noch so abgelegenen Dorf. Und noch heute gehen jeden Morgen Sechsjährige und Ältere in - manchmal sehr bescheidenen - Schuluniformen in ihre Schule. Was wir untersuchen wollen, ist, wie und wie erfolgreich aus heutiger Sicht dieses gewaltige Programm ausgeführt wurde.

Es ist verständlich, dass die Amerikaner mit den guten Erfahrungen ihres Schulsystemes im eigenen Land und ohne Erfahrungen in Kolonien ihr eigenes System kopieren wollten. So beschloss man, in Amerika die oben erwähnten 600 Lehrer einzustellen und ihnen die Aufgabe zu übertragen, ein amerikanisches Schulsystem in den Philippinen aufzubauen. Mit einem Aspekt diese Systemes werden wir uns im folgenden befassen. Es wurde beschlossen, dass die Unterrichtssprache Englisch ist, und die Landessprache (bzw. der Landesdialekt) wie eine Fremdsprache gelehrt wird. Um dies zu verdeutlichen: Ein Erstklässler erhält ein Rechenbuch in englischer Sprache, und es wird davon ausgegangen, dass der Lehrer in Englisch unterrichtet.

Dieses von den Vereinigten Staaten gestartete Projekt, die Weltsprache Englisch als Unterrichtssprache in den Philippinen einzuführen, wollen wir als Projekt Thomas bezeichnen.

Projekt Thomas wird bis heute beinahe unverändert fortgesetzt. Alle Unterrichtsfächer in den philippinischen Schulen werden in Englisch unterrichtet mit Ausnahme der Fächer "Filipino", Religion (teils in Filipino, teils in Englisch) Heimatkunde (in der Grundschule). Das Fach "Language" (Sprache) befasst sich mit der englischen Spache und nicht etwa mit der Muttersprache. Da verständlicherweise vor der Ankunft der Amerikaner in den Philippinen beinahe niemand Englisch sprach, bedeutet Projekt Thomas ein gigantisches Umerziehungswerk für das Denken und Leben von Millionen Menschen.


2. Sprachen in den Philippinen vor Projekt Thomas

Anfang des 16. Jahrhunderts {201}, vor der Ankunft der ersten philippinischen Kolonialmacht, der Spanier, gab es in den Philippinen eine große Anzahl Sprachen, die (nahezu) alle der austronesischen Sprachfamilie angehörten {202}. Die Vielzahl der Sprachen ist nicht verwunderlich, wenn man betrachtet, dass das Land eine Nord-Süd-Ausdehnung von mehr als 1500 km hat und aus 7000 Inseln besteht.

Die Spanier hatten sich die Aufgabe gesetzt, die Bevölkerung ihrer südostasiatischen Kolonie zu katholizieren, die bisher an viele Naturgötter glaubte. Sie gingen völlig anders vor als die Amerikaner fast vierhundert Jahre später. Anstelle dass die gesamte Bevölkerung Spanisch lernen musste, lernten die spanischen Mönche die jeweilige philippinische Sprache und unterwiesen in der Landessprache. Es besteht kein Zweifel, dass dieses Projekt der Katholisierung ein voller Erfolg war. Noch heute sind etwa 80 % der Filipinos Katholiken, die meisten davon praktizierend. Die katholische Kirche hat auch heute noch einen überwältigenden gesellschaftlichen Einfluss. Es war ein pädagogisches Meisterstück, die Lehrer statt der Schüler eine Fremdsprache lernen zu lassen, um das Land zu katholizieren. Hinzu kam, dass man weit weg von Rom war, und man konnte deshalb die christliche Religion sehr undogmatisch einführen. Zum Beispiel wurden die katholischen Heiligen die direkten Nachfolger der Haus- und Ahnengötter, und heute noch wird in vielen Familien dem Heiligenbild auf dem Hausaltar bei Geburtstagsfeiern ein kleines Stück der Geburtstagstorte angeboten.

Noch eine weitere Abschweifung vom Thema, die aber für den Umgang mit der Sprache der Kolonialherren wichtig ist. Die Spanier hatten kein Interesse, der einheimischen Bevölkerung ihre Sprache oder gar Schrift beizubringen. Andererseits brachten sie viele neue Dinge ins Land, für die es keine einheimischen Namen gab. Die Filipinos hörten, wie die Spanier ein Wort cerrar für einen geschlossenen Raum oder Behälter benutzten. Sie schnappten das Wort als sara auf, identifizierten es mit dem Begriff zu und betteten es völlig in ihre Sprache ein (z.B. inisara bedeutet zugemacht). Die spanischen Lehnwörter verschmolzen häufig bis zur Unkenntlichkeit in die Landesspache.

Die spanischen Priester mussten die einheimische Sprache lernen, um ihre missionarischen Aufgaben zu erfüllen. Einige von ihnen haben sich mit dieser Sprache sehr intensiv beschäftigt. So wurde bereits 1604 von Pater Pedro Chirino in Rom ein Tagalog-Buch (der Hauptdialekt in den Philippinen) veröffentlicht, wo dessen Verfasser die Tagalog-Sprache preist. Ihr sei zueigen die Mystik und Bildhaftigkeit des Hebräischen, die treffende Ausdrucksfähigkeit des Griechischen, die Vollkommenheit des Lateinischen und die Höflichkeit des Spanischen. So wurden die lokalen Sprachen bereits frühzeitig dokumentiert und untersucht. Andererseits ist auch verständlich, dass die spanische Kolonialmacht keine Schritte unternahm, ihren Untertanen zu einer eigenen Nationalsprache zu verhelfen. Das Studium der einheimischen Sprachen blieb eine Freizeitbeschäftigung der spanischen Mönche.

Hier unterscheiden sich die Philippinen erheblich von anderen spanischen Kolonien in Lateinamerika. Dort wurde offenbar die Urbevölkerung soweit vernichtet oder verdrängt, dass sich die spanische Sprache in kurzer Zeit als einzige Sprache durchsetzen konnte.

Bei der Ankunft der Amerikaner am Ende des 19. Jahrhunderts ergibt sich also folgendes Bild. Die spanischen Kolonialherren sprechen Spanisch als Mutter- und Amtssprache. Die kleine philipipinische Oberschicht und ein kleines einheimisches Bildungsbürgertum (vor allem Priester) spricht Spanisch als Fremdsprache, behält aber die einheimische Sprache als Muttersprache. Die große Mehrheit der Filipinos spricht ihren einheimischen Dialekt, der viele spanische Lehnwörter enthält.


3. Sprachen in den Philippinen nach einhundert Jahren Projekt Thomas

Auf den ersten Blick ist der Umerziehungsprozess Projekt Thomas ungemein erfolgreich gewesen. Wer als Besucher in die Philippinen kommt, sieht ein englischsprachiges Land vor sich. Im Hotel gibt es englischsprachische Zeitungen. Speisekarten und auch die Hotelrechnung sind in Englisch. Im Supermarkt und in anderen Geschäften findet man alle Produkte mit englischen Beschriftungen. Betritt man eine Buchhandlung, wird man nur englischsprachische Bücher finden. Englisch ist die geschriebene Amts- und Handelssprache. Gesetze, Steuererklärungen, Verträge und Geschäftskorrespondenz sind in Englisch. Man sieht also nur Englisch.

Anders wird das Bild, wenn man Philippinen zuhört. Zunächst versucht jeder Filipino, zu einem Ausländer Englisch zu sprechen. Im großstädtischen Bereich ist häufig sein Englisch ausgezeichnet. In weit abgelegen Provinzen können sich die Englischkenntnisse auf ein paar einfache Sätze beschränken. Insofern ist der häufig gehörte Satz richtig "In den Philippinen spricht jeder Englisch".

Wie sprechen die Filipinos untereinander? Zu Hause wird in beinahe allen Familien Filipino (mit mehr oder weniger lokalem Dialekt) [Anmerkung 3.1.] gesprochen, zu erwähnen sind noch chinesischsprechende Familien chinesischer Abkunft (es gibt auch chinesischsprachige Zeitungen). Der Verfasser schätzt, dass in weniger als 10 Prozent der philippinischen Familien (beide Elternteile Filipinos) am Familientisch Englisch gesprochen wird. Das bedeutet, das auch heute noch für 90 Prozent der Filipinos Englisch nicht die Muttersprache ist. Es ist auch der Satz richtig "In den Philippinen spricht fast niemand Englisch".

Geht man in verschieden Grundschulen, zeigt sich ein differenzierteres Bild. Privatschulen (und etwa die Hälfte der Kinder gehen auf private Schulen) haben nahezu ausschließlich englische Schulnamen, bei staatlichen Schulen kann etwa gleich häufig "Paaralang elementarya" und "Elementary School" lesen. Man wird fast nur englischsprachige Schulbücher finden und auch im Schulsekretariat wird Englisch geschrieben und gelesen. In den Klassenzimmern wird man häufig die Situation antreffen, dass der Lehrer eine Rechenaufgabe, die in Englisch im Buch steht, zunächst in Englisch erklärt und bei Unverständnis in der Schülerschaft - und das kommt häufig vor - das Ganze in Filipino wiederholt. Das ist zwar "illegal", aber oft pädagogisch erfolgreich. In den Schulpausen ist es unterschiedlich. In den Dorfschulen hört man dann kein Wort Englisch mehr. In besseren Privatschulen wird das "magtagalog" (= sich in Tagalog unterhalten) im Schulhof bestraft.

Wenn man in ein Büro oder zu einer Behörde geht, sieht man auf den Schreibtischen wieder nur englischsprachige Papiere. Vom Umgang mit Ausländern abgesehen, wird man ein interessantes Sprechverhalten feststellen. Die englischsprachigen Papiere werden in Englisch gelesen. Je weiter man sich vom Papier entfernt, desto weniger Englisch und desto mehr Filipino hört man. Nun folgen die englische und die filipinische Grammatik beim Satzbau völlig verschiedenen Gesetzen. Es gibt also einen Umkipppunkt im Gespräch. Erst werden filipinische Wörter in englisch konstruierte Sätze eingefügt, und dann plötzlich englische Wörter in filipinische Sätzen verwendet. Dabei werden die filipinischen Beugungsregeln korrekt auf die englischen Wörter angewandt ("Ifafax kita." = Ich werde dir/Ihnen ein Fax schicken).

Bei unseren Studien von Filipino sind uns erhebliche Unterschiede in der Sprachstruktur zwischen Filipino und europäischen Sprachen aufgefallen. Dabei gibt es sprachtechnische Unterschiede (z.B. Wortbildung innerhalb einer Wortfamilie oder Beugung), interessanter sind jedoch prinzipielle Unterschiede in Satzbau und Sprachstruktur [Anmerkung 3.2.]. Wir sind zu dem Schluss gekommen, das diese prinzipiellen Unterschiede möglicherweise mit prinzipiell unterschiedlichen Denkstrukturen der europäischen und philippinischen Menschen verbunden werden können. Leider hatten wir nicht die Möglichkeit, vergleichende Sprachstudien mit anderen Sprachen der indonesischen Sprachenfamilie anzustellen. Wenn unsere Vermutungen zutreffen sollten, ist leicht zu erklären, warum ein Deutscher leicht Französisch lernt und akzeptiert. Als europäische Sprache "passt" es zu seiner Denkstruktur. Ein Filipino hätte dann viel mehr Mühe, Englisch zu lernen und zu akzeptieren, da es zu seinem Denken "nicht passt". Das kann erklären, warum der Filipino in halb englisch geführten Gesprächen philipinische Sprachstrukturen vorzieht, während er rational das englische Denken voziehen würde.

Leider haben wir zu diesem Thema keine sachlichen Untersuchungen gefunden. Solange diese fehlen, ist Raum für Vermutungen und Spekulationen. Der ausländische Tourist wird kaum bemerken, dass es außer Englisch in den Philippinen noch eine zweite Sprache gibt. Interessierte Kreise ignorieren, dass es eine lebendige einheimische Sprache gibt. Und der Filipino kennt es nicht anders als dass es etwas anderes denkt und sagt als er schreibt.

Uns bleibt im folgenden leider keine Wahl als an Stelle von gesicherten Daten subjektive Beobachtungen zu setzen und daran Schlussfolgerungen knüpfen. Andererseits wollen wir ein breiteres Interesse wecken, damit mit wissenschftlichen Methoden vollständiges Tatsachenmaterial erstellt wird. Da wir uns mit diesem Thema bereits seit zwanzig Jahren im Lande lebend (genau gesagt: in der Hauptstadt, in einer gut entwickelten Provinzstadt und in abgelegenen Provinzen) befassen, mögen unsere Beobachtungen sicher nicht völlig, aber doch weitgehend richtig sein. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass unsere Beobachtungen keineswegs mit der offiziellen Meinung in den Philippinen übereinstimmen, die dann häufig kritiklos ins Ausland übernommen wird, da andere Stimmen fehlen.


4. Auswirkungen des Projektes Thomas auf die Schülerleistungen

Wir wollen versuchen, den Erfolg des Projektes Thomas an den Zielstellung der PISA-Studie des "lebenslangen Lernens" zu messen. Leider gibt es keine gesicherten Daten, wie philippinische Schüler bei einer solchen Studie bewertet würden. Wir wollen Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften und die Muttersprache betrachten.

Beginnen wir mit Englisch: Zunächst haben wir festzustellen, dass in der PISA-Studie Fremdsprachenkenntnisse nicht bewertet wurden. In der Kenntnis des Englisch hat das philippinische Projekt Thomas sicher seine besten Ergebnisse erzielt. Einige Filipinos sprechen sehr gut (amerikanisches) Englisch, viele sprechen gut Englisch, eine weitere Gruppe kann bestimmte Texte in Englisch lesen und verstehen (spricht aber ein für Ausländer nur ein wenig verständliches "Pilipinong Pinglish"). Bei Englischkenntissen (wenn man Englisch als Fremdsprache bewertet) schneiden die Philippinen im Vergleich mit ihren asiatischen Nachbarn nicht schlecht ab.

Nach den Vorgaben von Projekt Thomas hätte man jedoch die Englischkenntnisse in den Philippinen als die nach PISA erforderliche "Lesekompetenz" mit Muttersprachenkenntnissen in anderen Ländern zu vergleichen. Voraussichtlich würden dann die Filipinos weit zurückliegen.

In Mathematik und Naturwissenschaften ergibt sich ein eindeutiges Bild. Man muss ohne Übertreibung sagen, dass im Vergleich mit allen vergleichbaren Ländern die Philippinen katastrophal abschneiden. Viele Fachschulabsolventen können einfache Prozent-Aufgaben nicht erfolgreich lösen, der Dreisatz ist unbekannt, Kopfrechnen besteht nicht (beim Einkauf von 98 PHP rechnet die Kassierin auf dem Taschenrechner 100 - 98 = 2). Der Stellenwert von Mathematik und Naturwissenschaften ist in einem Entwicklungsland wie den Philippinen von ungeheuerer Bedeutung. Die Erfahrung zeigt, dass Länder auf dieser Entwicklungsstufe sich am schnellsten durch erhöhte Warenproduktion und Verbesserungen in der Landwirtschaft entwickeln. Dazu benötigt man viele und qualifizierte Ingenieure, und die lassen sich mit schlechten mathematischen und naturwissenschaftlichen Vorkenntnissen kaum ausbilden. Man ist in den Philippinen häufig stolz auf die "englischsprechenden Ingenieure". Aber leider gilt auch der Satz "Philippinische Ingenieure sind gut in Englisch, aber chinesische Ingenieure sind gute Ingenieure".

Hat dieser schlechte Kenntnisstand ursächlich mit dem Projekt Thomas zu tun? Wir glauben ja und möchten einen philippinischen Freund von uns zitieren: "Schlecht englischsprechende Lehrer lehren Mathematik und Naturwissenschaften in Englisch. Schüler, die kaum Englisch verstehen, lernen fast nichts."

Ein anderer Gesichtspunkt ist sicher weiterer Untersuchung wert: Wenn ein Kind in einer Fremdsprache lernt, entwickelt es dann die gleiche Kreativität im Denken wie beim Lernen in der Muttersprache? Oder ist die Kreativität niedriger, selbst wenn es die Fremdsprache gut beherrscht? Wir haben von Untersuchungen in Hongkong über das Lernen von Kindern aus chinesischsprachigen Familien in Schulen mit englischer oder chinesischer Unterrichtssprache gehört. Demnach war Lernen in der Muttersprache deutlich erfolgreicher. So sollen sogar nach einiger Zeit die Englischkenntnisse an chinesischsprachigen Schulen besser gewesen sein als an englischsprachigen Schulen.

Bei der Beurteilung der Kenntnisse in der Muttersprache, die bei PISA als "Lesekompetenz" an erster Stelle stand, scheiden sich die Geister. Als überzeugter "Thomaner" kann man sagen: Die Filipinos brauchen gar keine Muttersprache mehr, da sie das Englisch haben. Das mag von der Absicht her richtig sein, aber ist nicht zutreffend. Wie oben erwähnt, ist Englisch nicht die Muttersprache des überwiegenden Teiles der Filipinos.

Es fällt einem Ausländer schwer, die Muttersprachenkenntnisse in einer für ihn sehr abweichenden Fremdsprache mit denen in seiner eigenen Muttersprache zu vergleichen. Was man tun kann, ist die Kenntnis der philippinischen Sprache von Filipinos untereinander zu vergleichen. Zusätzlich kann man das Unterrichtsmaterial in den Schulen studieren. Nach unseren Vermutungen sind die Kenntnisse der philippinischen Sprache an PISA-Maßstäben gemessen nicht überwältigend. Hier besteht sicher ein ursächlicher Zusammenhänge mit dem Projekt Thomas, da dieses der Muttersprache einen geringen Stellenwert zuweist. Zum Schluss eine vielleicht zynische, aber leider zutreffende Bemerkung: Qualifizierte Kenntnisse in der philippinischen Sprache für "lebenslanges Lernen" sind nicht erforderlich, da es kaum Bücher und andere Weiterbildungsmöglichkeiten in der Muttersprache gibt.


5. Gesellschaftliche Auswirkungen des Projektes Thomas

Eine internationale Organisation, die sich die Bekämpfung von Bestechung als Aufgabe gestellt hat, trägt den Namen "Transparency International". Transparenz wird als eine der Grundbedingungen angesehen, um der Bestechung gegenarbeiten zu können. Das Projekt Thomas hat nun - wenn auch unbeabsicht - eine völlige Nicht-Transparenz auf sprachlichem Gebiet zur Folge. Das beginnt mit Dingen im täglichen Leben. Die Straßenverkehrsordnung ist in Englisch abgefasst, aber niemand kennt sie, weder der Verkehrsteilnehmer noch der Polizist auf der Straße. Ein Taschenbuch zu diesem Thema haben wir in den letzten zwanzig Jahren in keiner Buchhandlung gefunden (weder in Englisch noch in Filipino). Oben wurde erwähnt, man schreibe anders als man spricht. Das ist bestimmt kein Beitrag zur Transparenz. Dazu ein Beispiel aus dem politischen Leben: Wahlreden werden fast ausschließlich in Filipino (oder in dem lokalen Dialekt) gehalten. Nach der Wahl wird im Parlament Englisch gesprochen und in den großen Zeitungen in Englisch darüber berichtet. Die Mehrheit der Bevölkerung ist also prinzipiell nicht in der Lage, die Einhaltung von Wahlversprechen zu überprüfen.

Wenn man Bestechung genauer betrachtet, so wird sie durch das Vorhandensein komplizierter und unverständlicher Regeln erheblich gefördert. In Englisch abgefasste Gesetze, die weder Bürgern noch Gesetzeshütern zugänglich sind, leisten der Korruption Vorschub [Anmerkung 5.1.]. Unter dieser Sicht ist Projekt Thomas, wie es sich entwickelt hat, der Korruption förderlich.

Für das gesellschaftliche Selbstverständnis hat sicherlich die Sprache einen wichtigen Einfluss. Ein Land, das mehr als 400 Jahre unter Kolonialherrschaft gelebt hat, hat mehr Bedarf an Nationalbewusstsein als z.B. ein Land wie China mit 4000 Jahren staatlicher Tradition. Wenn ein Kind innerhalb und außerhalb der Schule hört, dass seine Muttersprache minderwertig und überflüssig ist, wird das sicher Folgen für sein Selbstverständnis haben. Es wird sich und seine Mitbürger als minderwertig gegenüber Ausländern (insbesondere Amerikanern, da die alle sehr gut Englisch können) betrachten. Dies hat groteske Folgen. Wenn ein Wachmann die Handtaschen vor Betreten eines Einkaufszentrums inspiziert, werden langnasige und hellhäutige Ausländer meist davon ausgenommen.

Die Zweisprachigkeit, das offizielle Englisch und das ignorierte Philippinisch, hat erheblichen Einfluss auf Chancengleichheit und persönliche und berufliche Entfaltung. Für nahezu alle qualifizierten Arbeitsplätze werden englische Sprachkenntnisse vorausgesetzt (z.B. Kassierer in einem Schnellimbiss in der Provinz). Damit wird der Mehrheit der Bevölkerung jede Chance genommen, sich beruflich zu qualifizieren. Eine Ausnahme sind politische Ämter, aber diese sind meist fest in "Familienbesitz". Es mag in diesem Zusammenhang interessant sein, dass multinationale, also ausländische Firmen bei der Weiterbildung ihrer Mitarbeiter weitgehend von der filipinischen Sprache Gebrauch machen (wenn auch schriftliches Unterrichtsmaterial fast ausschließlich in Englisch abgefasst ist).


6. Wirtschaftliche Auswirkungen des Projektes Thomas

Die Englischkenntnisse, die durch das Projekt Thomas vermittelt werden, haben sicher einen positiven Einfluss auf die internationale Mobilität der Menschen. Es gibt kaum ein anderes Land der Welt, in dem so viele Menschen im Ausland arbeiten, um ihre Familien zu Hause zu ernähren. Es handelt sich um 4 bis 6 Millionen Gastarbeiter. Es gibt beinahe kein Seeschiff auf der Welt, auf dem nicht philippinische Seeleute arbeiten. Die meisten Gastarbeiter kommen aus der Unterklasse und unteren Mittelklasse und sie üben im Ausland wenig qualifizierte Tätigkeiten aus (hauptsächlich Hausangestellte). Ausnahmen sind qualifizierte Krankenschwestern und Facharbeiter. Bei der Bewertung der hohen Anzahl der Gastarbeiter kann man zu gegensätzlichen Schlüssen kommen. Man kann stolz auf die vier Millionen im Ausland sein und die guten Englischkenntnisse dafür verantwortlich machen. Man kann aber auch argumentieren, dass diese vier Millionen Menschen offenbar keine ausreichenden Arbeitsmöglichkeiten im eigenen Land finden, um ihren Familien ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Ein anderer Gesichtspunkt ist, dass diese Gastarbeiter offiziell etwa 8 Mrd. USD (und vermutlich einen Betrag in gleicher Größenordnung über schwarze Kanäle) jährlich ins Land bringen und in Kaufkraft umsetzen. Das ist ohne Zweifel eine dauerhafte Stärkung der philippinischen Wirtschaft und Zahlungsbilanz. Es bleibt offen zu schätzen, wie groß der Vorteil für die Volkswirtschaft wäre, wenn diese Menschen im eigenen Land arbeiten könnten.

Eigentümer oder Betriebsleiter von kleineren Betrieben sind meist nicht in der Lage, Geschäftsbriefe und vergleichbare Schreiben in ausreichender Qualität (weder in Englisch noch in Filipino) abzufassen. Sie müssen dann auf mündliche Verabredungen ausweichen, was den Geschäftsverkehr erschwert und häufig nicht erlaubt, größere Projekte zu gewinnen und abzuwickeln. Dadurch entstehen Ausfälle in der Wirtschaftsleistung und zusätzlich erhebliche Wettbewerbsverzerrungen, da große und ausländische Problem diese Probleme nicht haben. So können z.B. kleinere oder mittelständische Restaurants kaum mit den großen Schnellimbissketten konkurrieren.

Beim philippinischen Verbraucher gelten philippinische Produkte als minderwertig (und sind es häufig auch). Inwieweit das mangelnde nationale Selbstbewusstsein auch dazu beiträgt, ist schwer zu quantifizieren.

In vielen Ländern erweisen sich Sprachbarrieren als Handelsbarrieren oder werden zu solchen gemacht. Da in den Philippinen keinerlei Vorschriften für Beschriftung in der Landessprache bestehen, werden Importe zu Lasten einheimischer Produkte vorgezogen. Insbesondere wird Schmuggel vereinfacht, wenn beim Verkauf keine Sprachvorschriften zu beachten sind. Kleinere philippinische Unternehmen müssen dem Brauch folgen und ihre Produkte in Englisch beschriften, um nicht hinterwäldlerisch zu gelten.

Vom Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes sind Hersteller in einer guten Position, wenn sie ihr Produkt in einer anderen Sprache deklarieren können als in der, die der Kunde versteht, ein zusätzlicher Gesichtspunkt zum Thema fehlende Transparenz. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass der finnische Telefonhersteller Nokia die Gebrauchsanweisungen für einige seiner Produkte in den Philippinen zweisprachig hat und auf dem Telefon die Sprachwahl "Filipino" erlaubt.

Mangelnde Qualifikations- und Aufstiegschancen für viele Menschen tragen sicher nicht zur Stärkung der Wirtschaftskraft des Landes bei. Da es ein starkes regionales Gefälle der Englischkenntnisse gibt, wird damit ein möglicher Anreiz, in strukturschwachen Gegenden zu investieren, geschwächt.

Der Gesamteinfluss von Projekt Thomas auf die philippinische Wirtschaft ist verständlicherweise nicht zu quantifizieren. Tatsache ist die kontinuierlich schwache wirtschaftliche Entwicklung der Philippinen. Alle asiatischen Nachbarn [Anmerkung 6.1.] haben die Philippinen wirtschaftlich überholt, nur Indonesien und Vietnam haben (noch) ein niedrigeres Bruttosozialprodukt. Das bezieht sich nicht nur auf die inländische Wirtschaftsleistung, sondern erstaunlicherweise auch auf die Exportleistung, wo doch eigentlich die Philippinen einen Wettbewerbsvorsprung durch Projekt Thomas haben sollten. Der Anteil ausländischer Unternehmen in den Philippinen ist erheblich höher als in den Nachbarländern, was zu einem stärkeren Gewinnabfluss ins Ausland führt. Eine zunehmende Zahl von internationalen Unternehmen schließt ihre Produktionsstätten in den Philippinen, um von anderen ASEAN-Ländern (mit eigener Muttersprache) den philippinischen Markt zu beliefern.


7. Kulturelle Auswirkungen des Projektes Thomas

Vor Beginn des Projektes Thomas gab es in den Philippinen verschiedene, z.T. stark voneinder abweichenden Dialekte. Der Hauptdialekt war und ist Tagalog, das in Manila und seiner weiterer Umgebung gesprochen wird, das im ganzen Lande verständlich ist und wenig Unterdialekte hat. Etwa 1930 wurde im Rahmen von Unabhängigkeitsbestebungen beschlossen, eine philipinische Nationalsprache zu entwickeln. Es war naheliegend, Tagalog als Basis zu verwenden. Nach einigen kleineren Erweiterungen heißt die Sprache jetzt offiziell "Filipino" [vgl. Anmerkung 3.1.], wird aber häufig noch als "Tagalog" bezeichnet. Dass es bei der Entwicklung der Nationalsprache zu regionalen Reibereien aus den Gegenden mit anderen Dialekten kam, ist nicht verwunderlich. Das heutige Filipino wird im ganzen Land verstanden und weitgehend auch geprochen. Das ist an der Beliebtheit der Fernsehsender in Filipino abzulesen. Es gibt also heute eine allgemein verständliche Nationalsprache.

Die Anwendung der Nationalsprache unterscheidet sich jedoch erheblich von der in anderen Ländern. In Deutschland schrieben Luther und Goethe in Deutsch. Heute schreibt die Frankfurter Allgemeine und die Bildzeitung in Deutsch. Im Fernsehen, am Arbeitsplatz, zu Hause und in der Kneipe wird deutsch gesprochen. Das klingt wie ein Gemeinplatz, ist es aber im Vergleich mit der philippinischen Situation keineswegs. In den Philippinen gibt es ein "altehrwürdiges" Tagalog der Bibel (die aber jetzt auch in Englisch in Gebrauch ist) und der Nationalhymne. Dann kommt Englisch als geschriebene Amts- und Handelssprache. Unten schließt sich ein Umgangs-Filipino an. Das bedeutet, dass Filipino nur als Sprech-Sprache lebt, jedoch nicht als Schrift-Sprache.

Häufig wird das Begriff "Filipino" vermieden und der Eindruck erweckt, dass die weiterhin als "Tagalog" bezeichnete Sprache ein Lokaldialekt wie viele andere in den Philippinen ist. Damit wird die Nationalsprache - bewusst oder unbewusst - aus der täglichen Realität enfernt, und in eine Art "Heimatmuseum"-Bereich verdrängt.

Es gibt ein dem Duden vergleichbares Wörterbuch (herausgegeben von der staatlichen Universität der Philippinen, geschätzte Auflage 10 000 Exemplare), das aber kaum bekannt ist und daher nicht als Richtschnur für gutes und richtiges Filipino dienen kann. An richtigem und gutem alltäglichen Filipino ist eigentlich niemand interessiert. Professionelle Beschäftigung mit der Sprache steht auf der gleichen Aktualitäts-Stufe wie historische Forschung.

Bewusst oder unbewusst werden die Begriffe von Muttersprache, Fremdsprache und Dialekt vermischt. Vermutlich kommt dies aus Amerika, wo häufig eine vereinfachte Identifizierung "Amerikanisches Englisch = Muttersprache = Weltsprache = Sprache schlechthin" stattfindet, da das Phänomen, dass die meisten Menschen in dieser Welt eine andere Muttersprache als Englisch haben, weit vom eigenen Erfahrungshorizont entfernt ist. Heute wird der Unterschied zwischen Muttersprache und Fremdsprache in den Philippinen nicht gesehen. Dann kommt die falsche Frage auf: Filipino oder Englisch. Und da man Englisch für die internationale Kommunikation benötigt, wird daraus geschlossen, dass für die Muttersprache Filipino kein Platz mehr in der heutigen Zeit sei.

Neue Begriffe, für die es im Filipino mit seinen spanischen Lehnwörtern keine Wörter gibt, werden jetzt unkritisch aus dem (amerikanischen) Englisch übernommen, jedoch nicht mehr als Lehnwort wie aus dem Spanischen, sondern als Fremdwort in amerikanischer Aussprache. Da die englische Aussprache vom Schriftbild abweicht, gibt es Buchstabierungs- oder Ausspracheprobleme. In manchen Fällen wird die Schreibweise "eingefilipinot".

Es gibt eine Anzahl Wörter- und Sprachbücher, die im wesentlichen dem Leser helfen sollen, ins Englisch zu übersetzen und englische Texte zu verstehen. Dass diese Bücher die Besonderheiten der eigenen Sprache nicht herausarbeiten, liegt in der Natur der Sache.

Eine von vielen Seiten als wertlos betrachtete Muttersprache ist der Entwicklung der philippinischen Literatur nicht zuträglich gewesen. Die wenigen Buchhandlungen führen neben englischsprachigen Büchern nur sehr wenige Bücher in Filipino. Die meisten englischsprachigen Bücher und Zeitschriften sind amerikanisch oder Nachdrucke von amerikanischen Büchern, bei Sachbüchern oft in veralteten Auflagen. Sie tragen indirekt bei zur Verbreitung von amerikanischen Lebenstil und Besonderheiten. So finden sich in technischen Fachbüchern häufig noch die amerikanischen Maßeinheiten (Zoll, Fuß usw.), während alle asiatischen Handelspartner voll metrisch rechnen. Landesspezifische Bücher (z.B. über landschaftliche Kultur und Geschichte oder über Flora und Fauna) werden kaum velegt, weder in Englisch noch in Filipino.

Besonders traurig ist die Situation bei Kinderbüchern. Neben guten meist britischen Kinderbüchern gibt es fast keine in Filipino. Das Ergebnis ist, dass die meisten Kinder gar keine Bilder- und Kinderbücher zu sehen bekommen. Ähnlich ist es für junge Elten mit Büchern, die die geistige und gesundheitliche Entwicklung ihrer Kinder begleiten könnten, für ein kinderreiches Land sicher ein ernstes Problem für die zukünftigen Chancen dieses Landes.

Es gibt beinahe keine Fachzeitschriften in Filipino (es fehlen daher Fachausdrücke) und auch keine philippinischen Fachzeitschriften in englischer Sprache. So haben Anbieter von neuen Produkten und Ideen keinerlei inländische Möglichkeiten, ihre Gedanken und Geschäftsideen in Artikeln und Anzeigen zu verbreiten. Gleiches gilt für Hobby- und ähnliche Zeitschriften.

Dass es ein weitgehendes Bedürfnis an Filipino-sprachigen Büchern gibt, beweisen die viel gelesenen und oft ausgeliehenen "Groschenroman"-Heftchen.

Umweltschützer sprechen heute häufig von der Erhaltung der Artenvielfalt bei Tieren und Pflanzen. Gibt es auch eine zu unterstützende Sprachenvielfalt? Ist eine Sprache auch ein schutzwürdiges Kulturgut? Wer dies bejaht, wird den derzeitigen Zustand der philippinischen Sprache sicher nicht begrüßen.


8. Eine Bewertung von 100 Jahren Projekt Thomas

Wenn man den obigen Darlegungen zustimmt, kommt man zu dem Ergebnis, dass Projekt Thomas in den vergangenen hundert Jahren ein gewaltiger Fehlschlag geblieben ist:

Diese Feststellungen sind keine Schuldzuweisung an die Väter von Projekt Thomas, das vor 100 Jahren definiert und begonnen wurde. Großen Einfluss auf den Misserfolg ist sicher in der Unfähigkeit der Filipinos zu sehen, größere Projekte zielstrebig und erfolgreich durchzuführen. Vereinfacht gesagt: Wer keine Autobahnen bauen kann, kann sicher auch nicht das Denken, Schreiben und Sprechen der Menschen in Englisch umerziehen.

Heute sollten sich alle Beteiligten die Frage stellen, ob sie das Projekt in seiner jetzigen Form als gescheitert betrachten. Sollte es dann unverändert weitergeführt werden, durch ein abgewandeltes Projekt ersetzt werden oder durch einen völlig neuen Ansatz ersetzt werden?

Da diese Frage das Leben von heute 80 Millionen Philipppinen einschneidend beeinflusst, ist es keine Sachfrage, die von ein paar Wissenschaftlern entschieden werden kann. Vielmehr ist es eine hochpolitische Frage, die politisch entschieden werden wird. Wir müssen uns also damit beschäftigen, wer von Projekt Thomas profitiert und daher an seiner Weiterführung interessiert ist. Andererseits ist zu betrachten, wem Projekt Thomas schadet und wer also an Abschaffung oder Änderung interessiert sein sollte.


9. Die Nutznießer von Projekt Thomas

Projekt Thomas hilft, die pseudodemokratische, in Wirklichkeit aber ständisch-feudalistische politische Struktur der Philippinen zu erhalten. Die herrschende politische Elite kann ihren eigenen Machterhalt sichern, Fortschritte weitestgehend verhindern, ohne dafür Verantwortlichkeit übernehmen zu müssen. Im zaristischen Russland sprach die Elite Französisch und versuchte dadurch, einen "natürlichen" Abstand zwischen sich und dem gemeinen Volk zu schaffen. Keiner wird zugeben wollen, dass er aus Gründen der Machterhaltung an der Trennung von Amts- und Handelssprache einerseits und Muttersprache andererseits lebenswichtiges Interesse haben kann. Aber es mag doch vorkommen, dass der eine oder andere Politiker mal einen Alptraum haben könnte, wenn seine Wähler die Kommentare über sein politisches Verhalten in den Tageszeitungen lesen und verstehen könnte. Was wäre, wenn jeder kleine Angestellte, Arbeiter oder Bauer seine Rechte nachlesen oder in seiner eigenen Sprache einfordern könnte?

Projekt Thomas hilft, der Ober- und Mittelschicht gesellschaftliche Privilegien zu erhalten, damit die Gesellschaft immobil zu halten und die große unterpriviligierte Mehrheit an gesellschftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung zu hindern. Müsste sich der Vater einer Mittelstandsfamilie nicht ernste Gedanken darüber machen, wenn seine Kinder, die in Privatschulen Englisch gelernt haben, jetzt in einen fairen Wettbewerb mit Filipino-sprechenden Mitbewerbern aus den Provinzen um Arbeitsplätze und Karriere zu kämpfen hätten?

Nach Aussagen von Fachleuten soll es in den Philippinen viel Korruption geben. Das geht hin bis zur Behauptung, dass das gesamte öffentliche Leben bewusst untransparent gehalten wird, um sich ungehindert und ungestraft durch Korruption Macht und Reichtum zu erhalten bzw. zu erlangen. Transparenz im Sinne von sprachlicher Klarheit würde vermutlich weder von Bestechern noch Bestochenen begrüßt. Hätte nicht mancher Finanzbeamte sein Verhalten etwas zu ändern, wenn die Steuerzahler die Steuererklärungen richtig lesen und verstehen würden? Könnte sich der Gesetzgeber selbst weiterhin Privilegien sichern, wenn Verabschiedung und Ausführung der Gesetze transparenter wären? [Anmerkung 9.1]

Nutzniesser von Projekt Thomas sind vieler Großbetriebe, vorwiegend Töchter transnationaler Unternehmen. Sie können sich englischsprechende Angestellte, Anwälte und Steuerberater leisten und sich damit Vorteile gegenüber konkurrierenden Kleinbetrieben verschaffen. Andererseits können sie in ihrer Werbung immer auf Filipino umschalten, wenn sie auf großen Werbetafeln den "kleinen Mann" von ihren Produkten und Dienstleistungen überzeugen wollen. Im Verhältnis zu den Kunden ist immer einfacher, wenn diese das Kleingedruckte nicht verstehen. Das gilt nicht nur für Banken und Versicherungen, sondern z.B. auch für die Angabe der Zutaten bei Lebensmitteln.

Ausländische Mächte, insbesondere dem englischen Sprachraum angehörende, werden sicher nicht daran interessiert sein, eine philippinische Nationalsprache zu fördern und damit Selbstwertgefühl und Eigenständigkeit der Filipinos zu erhöhen.

Eine philippinische Nationalsprache könnte nachkoloniale Bindungen schwächen, und die Filipinos könnten sich mehr an den nicht englischsprachigen Nachbarländern orientieren, insbesondere an Indonesien und Malaysia, wo verwandte Sprachen gesprochen werden. Hat nicht auch Großbritannien als das einzige englischsprachige Land in Europa regelmäßig besonders enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten? Macht nicht Frankreich große Anstrengungen, um die frankophonen Länder zusammenzuhalten?

Ein letzte Gruppe von Thomas-Befürwortern ist noch zu erwähnen: Es sind Menschen in den nicht-Tagalog-sprechenden Teilen des Landes, die angeblich unter der Tagalog-Lastigkeit des Filipino leiden. Sie argumentieren (oder es wird ihnen erzählt so zu argumentieren): Besser Englisch als eine philippinische Nationalsprache, die aus der Nachbarprovinz kommt.


10. Die Benachteiligten von Projekt Thomas

Die Hauptleidtragenden von Projekt Thomas sind die Filipinos, die der Theorie nach Englisch gelernt haben sollten, es aber nicht gelehrt bekommen oder gelernt haben. Dies sind Millionen Menschen, vorwiegend aus ländlichen Gebieten und aus den unteren sozialen Schichten. Sie haben schlechte Berufsaussichten, in ihre ländlichen Gebiete kommt weder Infrastruktur noch Gewerbe. Sie können nicht mit den "Tonangebenden" kommunizieren.

Dazu kommen philippinische Kleinbetriebe, die sich englischsprechende Mitarbeiter nicht leisten können. Sie unterliegen der ausländischen Konkurrenz und den philippinischen Großbetrieben.

Die philippinische Wirtschaft vergibt jedes Jahr Milliarden, wenn sie an der Fiktion festhält, die Philippininen seien ein englischsprechendes Land. Wie viele Talente werden verschleudert, weil Kinder in der Schule etwas nicht lernen, nur weil sie die Unterrichtssprache nicht verstehen? Wie viel mehr gute Ingenieure könnte es in den Philippinen geben, wenn nicht Sprachwissen, sondern Ingenieurwissen entscheidend wäre? Wie viel Kaufkraft könnte in den ländlichen und entfernten Provinzen geschaffen werden, wenn die Sprachbarriere beseitigt wäre? Die Firma Nokia aus dem kleinen Finland weiß, warum sie ihre Telefone mit Filipino Sprachoption ausstattet.

Wissenschaft und Geistesleben würden gefördert, wenn man seine eigene Sprache hätte. Das würde vermutlich das Bruttosozialprodukt nicht steigern (wie es übrigens Altertumsforschungen und Heimatmuseen in Deutschland auch kaum tun), aber eine kulturelle Bereicherung darf als Wert an sich gesehen werden. Mit einem verbreiterten Studium der eigenen Sprache erhielt die philippinische Wissenschaft ein eigenes Forschungsgebiet, auf dem sie kompetent werden und internationalen Forschungsaustausch betreiben könnte. Ähnliches gilt für eine eigenständige Literatur, wenn Lesen in der Muttersprache ein allgemeiner Brauch in weiten Kreise der Bevölkerung werden könnte.


11. Gewinner und Verlierer bei Projekt Thomas

Vereinfacht gesprochen sind die Gewinner von Projekt Thomas diejenigen, die oben an der Macht sitzen. Die Verlierer sind die Kleinen und Benachteiligten. Nun könnte man hier die Abhandlung über eine scheinbar aussichtslose Sache beenden. Jedoch lehrt die Geschichte, dass die Kleinen und Benachteiligten mächtig werden können, wenn sie ihre Sache klug verfolgen. Deshalb wollen wir uns jetzt nochmal die Hauptargumente der Thomas-Befürworter vorlegen.


12. Argumente für die Weiterführung von Projekt Thomas

Das am häufigsten gebrauchte und missbrauchte Argument für Projekt Thomas ist, dass die Philippinen das Englisch brauchen, um in der Welt konkurrieren zu können. Das ist ebenso unbestreitbar wie z.B. dass Finnen, Deutsche und Holländer Englischkenntnisse brauchen. Der Missbrauch des Argumentes beginnt, wenn man zwischen Mutter- und Fremdsprache keinen Unterschied macht. Projekt Thomas hat nichts damit zu tun, welche Fremdsprachen Philippinen benötigen und lernen sollten. Projekt Thomas besagt, welche Sprache in den Philippinen Unterrichts-, Amts- und Handelssprache sein soll.

Eigenartig ist die Begründung, dass die Filipinos, und vor allem die ärmeren, Englisch lernen müssen, um erfolgreich als Gastarbeiter zu sein. Diese Argument wird dann bezeichnenderweise nicht von den Gastarbeitern selber vorgebracht, sondern es sind politische Würdenträger, die bei feierlichen Anlässen die Gastarbeiter als die "Helden der Nation" titulieren. Das Gastarbeiterwesen wird vorwiegend von Leuten propagiert, die gut in den Philippinen von der durch die Gastarbeiter geschaffenen Kaufkraft leben oder gar direkt als Mittelsmann in Behörden und Privatfirmen an den Gastarbeitern verdienen.

Wer mit zurückgekehrten Gastarbeitern gesprochen hat und von ihnen über die meist miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen gehört hat, kann sich kaum der Meinung anschließen, dass die Zukunft der Philippinen darin liegt, dass man die Toiletten der Reichen dieser Welt putzt und Japaner und andere mit Nachtklubhostessen versorgt. Sprachkenntnisse anstelle einer qualifizierten Ausbildung führen leicht zu Ausbeutung im Ausland. Sprachkenntnisse und qualifizierte Ausbildung führen zu gutbezahlten und geachteten Arbeitsplätzen im In- und Ausland.

Das zweite Argument, das häufig in meinungsbildenden (verständlicherweise englischsprachigen) Tageszeitungen zu lesen ist, sagt, dass das Filipino eine minderwertige Sprache sei, die für die Kommunikation im 21. Jahrhundert nicht geeignet sei. Das wird dann mit veralteten Wörtern in der Sprache "bewiesen", die nicht mehr in die heutige Zeit passen (oder mit dümmeren Argumenten, wie z.B. dass das philippinische Alphabet weniger Buchstaben als das englische habe [man meint dabei das lateinische Alphabet]). Nun ist keine Sprache dieser Welt für die Kommunikation in der Zukunft ausgerüstet. Goethe wusste nicht, was eine Autobahn ist und einem George Washington war vermutlich auch noch nicht bekannt, dass ein "mailbox" einmal ein bestimmter Speicher in einem Elekronenrechner sein wird. Jede lebendige Sprache muss für jedes Neue neue Ausdrücke finden.

Weiterhin wird argumentiert, dass das Filipino eigentlich gar keine Sprache sei, sondern ein Gemisch von verschiedenen Dialekten. Das hat man in Deutschland nach Luthers Bibelübersetzung sicher auch von der deutschen Sprache gesagt. Es ist sehr eigenartig, anzunehmen, dass sich die indonesische und die malaysische Sprache aus der indonesischen Sprachfamilie als Nationalsprachen eignen, während die philippinische Schwesternsprache dafür völlig untauglich sein soll.

Hinzu kommt, dass erklärt wird, wenn man nur genügend Englisch lerne, werde man schon die alte Muttersprache nicht mehr brauchen und sie vergessen. Dem widerspricht, wie oben ausführlich dargelegt, die Geschichte der letzten hundert Jahre in den Philippinen. Offenbar gibt es doch eine starke Verbindung zwischen Denkstruktur und Sprache, die sich in einem ganzen Volk nicht so schnell ändern lässt. Das klassische Vorbild ist das normannische Französisch in England, das am Ende nur eine Menge Lehnwörter in der englischen Sprache hinterlassen hat (und dabei sind beides europäische Sprachen).

Schließlich kommt noch ein weiteres Argument hinzu. Wenn man keine eigene Nationalsprache mehr hat, braucht man sich auch um keine mehr zu kümmern. Dieses Argument wird nicht offen diskutiert, aber es stimmt schon, dass man amerikanische Schulbücher nachdrucken kann, wenn der Unterricht in Englisch gehalten wird. Dass dann die Rechenaufgaben zufällig von der Weizenproduktion im Mittelwesten handeln, und im Naturkundebuch die Fahrenheit-Kältegrade in Alaska berechnet werden, ist ein Nebeneffekt, den man heute mit der Vorbereitung auf die Globalisierung begründen kann. Wenn man Filipino zur echten Nationalsprache machen will, ist eine Menge zusätzlicher Arbeit zu leisten, und die scheint von vielen gescheut zu werden.


13. Projekt Wika statt Projekt Thomas

Projekt Wika nennen wir einen Ansatz, Muttersprache, Unterrichts-, Amts- und Handelssprache zusammenzuführen und Englisch eine starke Rolle, aber als Fremdsprache zuzuweisen. Das Wort "wika" bedeutet "Sprache" in Filipino. Ein solches Projekt ist nicht so originell. Das ist, was fast alle Länder dieser Welt bereits getan haben mit Ausnahme der englischsprachigen Länder, denen sich dieses Problem nicht stellt [Anmerkung 13.1.].

Das, was im Rest der Welt der Standard ist, stellt etwas völlig Revolutionäres in den Philippinen dar. Und um etwas Revolutionäres erfolgreich durchzuführen, bedarf es starker Bundesgenossen. Wer könnten diese für Projekt Wika sein? Innerhalb des Landes sind solche Bundesgenossen nicht zu sehen.

Das Land und seine Elite ist rückständig und entwicklungsfeindlich, die dadurch Geschädigten leiden nicht, sie sind glücklich und zufrieden mit ihrem Los. Die Mittelklasse ist zahlenmäßig schwach, einflussarm, und klammert sich an die Elite. Ein Bildungsbürgertum existiert praktisch nicht. Die meisten Studenten verhalten sich wie Konsumenten, die mit viel Geld und Mühe ein Diplom kaufen. Kirchen treten auf dem Gebiet der gesellschftlichen Entwicklung kaum in Erscheinung, man beschäftigt sich viel mit dem "ungeborenen Leben", so dass für das geborenen Leben nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig bleibt. Revolutionär-proletarische Bewegungen gibt es nicht (mit Ausnahme von ein paar gestrigen Kämpfern in den Wäldern). Niemand hat den Willen und die Kraft zu einer Erneuerung.

Nun kann man darüber bedauernd die Achseln zucken. Wenn man aber glaubt, dass wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den armen Teilen der Welt zu Stabilität und Nutzen auch in den hochentwickelten Ländern beiträgt, sollte man doch tätig werden. Im Folgenden wollen wir erste Vorschläge machen, wie erfolgreich Hilfe aus Deutschland geleistet werden könnte, ohne sich aggresiv und konfrontativ aufzudrängen.


14. Deutschland und Projekt Wika

Im fernen Deutschland wird man sich fragen: Was haben wir schon mit der Sprache in einem unbedeutenden Land (das nur ein unbedeutender Handelspartner ist) zu tun. Ein "Gar nichts" ist eine zu einfache Antwort. Zunächst hat offenbar Deutschland mit den Philippinen sehr viel zu tun, sonst würden nicht Hunderte von Entwicklungshelfern in diesem Land bezahlt und ein Goethe-Institut in Manila unterhalten. Dies wird offensichtlich im wohlverstandenen Interesse Deutschlands getan, um in den Philippinen Deutschland wirtschaftlich, politisch und kulturell Gehör zu verschaffen.

Nun wird man zusätzlich fragen, warum sich Deutschland auf dem Gebiet der Landesprache in einem asiatischen Staat exponieren sollte. Ungezweifelt hat Deutschland Tradition und Qualifikation in der sprachlichen Forschung. Wir erwähnen hier das nur das von den Gebrüdern Grimm begonnene "Deutsche Wörterbuch". Eine intensivere Beschäftigung gerade mit einem asiatischen Land (auch wenn dieses Land nicht im Mittelpunkt des Interesses steht) kann sicher für Deutschland nicht schädlich sein.

Hinzu kommt, dass der Themenkreis Amts-, Handels-, Mutter- und Fremdsprache im Rahmen der Europäischen Union mit der Vergrößerung der Zahl der Muttersprachen innerhalb der Gemeinschaft möglicherweise in Zukunft zu ersthaften politischen Problemen führen kann. Wissenschaftliche Denkarbeit im voraus über den Umgang mit "unbedeutenden" Muttersprachen kann da nur hilfreich sein.

Ein anderer Einfallswinkel ist die Globalisierung. Wie sind kulturelle und sprachliche Vielfalt und internationale Kommunikation mit ihrem Zwang zur Einheitlichkeit zu vereinbaren? Werden die multinationalen Firmen die Muttersprache unserer Enkelkinder bestimmen? Droht eine zwangsläufige Hegemonie der Länder, die die Weltsprache Englisch als Muttersprache sprechen? Und falls ja, wie ist dem von den anderen Ländern zu begegnen? Auch hier könnte es nicht schaden, wenn man bei "akademischen Sandkastenspielen" in einem weit entfernten Land Daten und Erfahrungen sammeln könnte, ohne gleich Irritationen bei politischen "Freunden" in der Welt auszulösen?

Dies alles mögen Gründe sein, die im gesunden Eigeninteresse Deutschlands und der Europäer liegen. Dazu sollte etwas zweckfreier missionarischer Eifer hinzukommen. Wäre es nicht eine gute Idee, dass ein Land, das zwei seiner Sprachforscher auf einer Banknote abgebildet hatte, auch weiterhin internationale und zukunftweisende Kompetenz auf diesem Gebiet suchen würde? Ist nicht auch eine südostasiatische Sprache ein Stück Weltkulturerbe, zu dessen Pflege eine Kulturnation wie Deutschland beitragen sollte?

Wir möchten deshalb eine Anzahl Vorschläge machen:

Zunächst sollten wissenschaftlich gesicherte Daten über das heutige tatsächliche Sprachverhalten der Filipinos geschaffen werden. Man könnte mit empirischen Untersuchungen beginnen und Gespräche aufzeichnen, den Gebrauch von filipinischen, spanischen und englischen Wörtern zählen und die Häufigkeit des filipinischen bzw. englischen Satzbaues statistisch untersuchen. Diese Daten sollten in Abhängigkeit von Gesprächsthema, sozialer Stellung der Gesprächsteilnehmer usw. analysiert werden. Der Einstieg in diese Arbeit wird erleichtert, da ein Deutscher wegen des lateinischen Alphabets wenig Probleme des Lesens von filipinischen Wörtern und Sätzen hat (und diese auch gut in Standard-Computer passen).

Ein weiteres interessantes Studienthema wäre ein Sprachvergleich zwischen den drei indonesischen Sprachen Indonesisch und Malaysisch einerseits und Filipino andererseits, da erstere Sprachen als Amts- und Handelssprachen dienen, während das letztere als dafür ungeeignet gehalten wird [Anmerkung 14.1.].

Wo sind die Sprachwissenschaftler, die diese Themenkreise als dissertationswürdig erachten?

Was könnten Forschungsergebnisse für Projekt Wika bedeuten? Es liegt uns fern, die Ergebnisse wissenschftlicher Forschungen vorwegzunemen. Andererseits halten wir es nicht für ausgeschlossen, dass unsere Vermutungen zumindest teilweise bestätigt werden. Was wäre dann zu tun?

Zunächst sollte dann in der offiziellen deutschen Auslandsarbeit für die Philippinen ein Umdenken einsetzten. Das mag kompliziert sein, aber Auslandsarbeit wird nicht aus Bequemlichkeit getan. Möglicherweise hätte das Goethe-Institut in Manila zwei Sprachen des Gastlandes, Filipino und Englisch, zu beachten. Besonders erfolgversprechend wären Deutschkurse, die in Filipino gegeben würden (einschließlich Unterrichtsmaterial), da sich eine Fremdsprache viel leichter von der Muttersprache aus lernt als von einer anderen Fremdsprache.

Entwicklungshelfer und andere Berater, die bei ihrer täglichen Arbeit mit Phipippinen zusammenarbeiten, sollten Filipino-Sprachkenntnisse haben, um ihre Wirksamkeit im Gastland zu erhöhen. Dazu müssten Sprachkurse einschließlich Ausbildungsmaterial angeboten werden.

Tiefgreifende Änderungen in der Priorität der Entwicklungsprojekte - insbesondere im Bereich der Ausbildung - mögen erforderlich sein. Es ist möglich, dass heute die englischsprechenden deutschen Entwicklungshilfe-Organisationen zusammen mit ihren englischsprechenden philippinischen Partnern unbewusst Projekten für die oberen Schichten der Gesellschaft die Priorität geben, während wichtige Projekte für die nicht-englischsprechende unterpriviligierte Mehrheit nicht gesehen und daher nicht in Angriff genommen werden. Ob das den Zielen der Entwicklungshilfe entspricht, soll hier nicht diskutiert werden.

Das beinahe völlige Fehlen von Kinder- und Elternbüchern in Filipino könnte ein Signal für Organisationen sein, die sich dem Schutz und der Entwickung junger Menschen widmen. Es dürfte sicher kein zu umfangreiches Projekt sein, ein paar Kinderbücher in Filipino zu übersetzen und für ihre Verbreitung in den kinderreichen Familien der Unterschicht zu sorgen (allerdings sind einige Anpassungen erforderlich, einen Apfelbaum sollte man durch eine Bananenstaude oder einen Mangobaum ersetzen). Schwieriger sind Elternbücher. Hygiene in tropischen Ländern ist z.B. anders zu sehen als in Deutschland. Da für viele Eltern die Fernsehreklame in Filipino die einzige Fortbildungsmöglichkeit darstellt, kommen Dinge wie Umweltschutz sicher nicht in der häuslichen Erziehung vor. Erst benutzt man Wegwerfwindeln und dann geht man zu McDonalds und erfreut sich an stark zuckerhaltigen Limonaden, die in Wegwerfbechern serviert werden. Von Umweltverschmutzung, von Karies und späterer möglicher Diabetis hört man dabei nichts.

Gerade auf dem Gebiet, die Erziehung im Eltenhaus zu unterstützen, könnte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Filipinos entwickeln, die wertvolle Ergebnisse für Tausende, viellecht sogar Millionen Menschen bringen könnte. Ein anderer Gesichtspunkt ist, dass durch solche Projekte jungen philippinischen Hochschulabsolventen interessante Projekte im eigenen Land und für das eigene Land angeboten werden, die dauerhafte Alternativen zu einer Emigration in ein mehr versprechendes Land werden können.

Weitergehende Projekt könnten sein, deutsche und auch philipinnische Firmen zu überzeugen und zu unterstützen, die Sprache Filipino aktiv für das Geschäft erfolgreich einzusetzen, wie es Nokia breits tut.

Und wenn diese Projekte später als erste Schritte zu einer Neuorientierung der Philippinen im eigenen Lande anerkannt würden, hätte Deutschland sich viele philippinische Freunde, auch Geschäftsfreunde gemacht.


15. Nachwort: Der Verfasser und die Sprachen

An dieser Stelle soll berichtet werden, warum der Verfasser sich so vehement für eine lebendige Nationalsprache in den Philippinen einsetzt. Von meiner Ausbildung her bin ich promovierter Physiker, also mehr der exakten Seite des Denkens zugeneigt, obwohl ich auch in Tübingen eine Vorlesung über "Schelling und die Philisophie der Romantik" gehört habe.

In der Schule bin ich kein guter Schüler in Sprachen gewesen, dafür aber weit über dem Durchschnitt in Mathematik und Naturwissenschaften. Ich ging in der damaligen DDR zur Schule. Wenn ich mir die philippinischen Verhältnisse auf meine damalige Situation übertrage, sträuben sich mir die Haare. Russisch war damals dort die Fremdsprache Nr. 1. Natürlich sprachen meine Eltern kein Wort Russisch. Wenn mir mit sechs Jahren ein russisches Rechenbuch in die Hand gedrückt worden wäre, ich in einer Schule von einem deutschen Lehrer, der im Unterricht radebrechend Russisch sprechen musste, das Rechnen hätte lernen sollen, würde ich heute hier nicht zufrieden vor meinem Computer sitzen und diese Zeilen schreiben können.

Mein bewusster Umgang mit Fremdsprachen begann im Jahr 1973. Ich wurde von Hamburg nach Eindhoven, Niederlande in die Konzernzentrale meines Arbeitgebers Philips versetzt. Deutsche Freunde halfen - wie in solchen Fällen üblich - mit Rat und Tat. Der Rat bezüglich der Sprache beschränkte sich auf Sätze wie diese "Du hast Glück, da spricht jeder Deutsch." oder "Eigentlich haben die gar keine richtige Sprache, das ist wie Plattdeutsch.". Trotz dieser Ratschläge besuchte ich einen dreiwöchigen Sprachkurs (der von der Firma bezahlt wurde). Ich war schon vorher häufig in Eindhoven geschäftlich gewesen, und hatte das Sprachverhalten bei geschäftlichen Besprechungen studiert. In internationalen Besprechungen wurde Englisch gesprochen, in deutsch-niederländischen Deutsch. Wenn die Diskussionen kontrovers zu beginnen drohten (und zu Geschäftsbesprechungen geht man nicht nur, um Höflichkeiten auszutauschen), verfielen die Niederländer (sie waren die Chefs oder hielten sich dafür) in ihre eigene Sprache und der Rest verstand nichts. Später las ich an einer Wandtafel in einem englischen Betrieb den Satz "In unserer Firma werden die Entscheidungen in Holländisch getroffen, nur die Protokolle sind in Englisch." Der Sprachkurs war für mich u.a. ein Werkzeug, um mit "dazugehören" zu können.

Als ich dann länger im Land war, lernte ich, wie Niederländer mit ihrer Sprache umgehen. Von Kindesbeinen an lernt man "Wir leben in einem kleinen Land, deshalb müssen wir Fremdsprachen lernen." In Standard-Stellenanzeigen für Sekretärinnen werden "Moderne talen" verlangt, das bedeutet Englisch, Deutsch und Französisisch. Mit Ausländern spricht der Niederländer lieber in deren Sprache, auch wenn er sie nicht gut kann (das ist sehr lästig, wenn der Ausländer beinahe perfekt Niederländisch spricht). Ausländische Filme werden nicht synchronisiert, sondern mit Untertiteln versehen. Trotzdem spricht man zu Hause, in der Schule und im Parlament die Muttersprache und liest die Tageszeitung in Niederländisch.

Als ich dann viele Jahre später nach Manila versetzt wurde, fiel mit auf, wie die Niederländer durch ihre Sprache ihr Zusammengehörigkeitsgefühl im Ausland verstärken. Es wurden sogar niederländische Wörter für lokale Besonderheiten geprägt, "dorpje" (kleines Dorf) wurde der Begriff für die eingezäunten exklusiven Wohngebiete in Makati, dem Geschäftsviertel von Manila. Mein Arbeitgeber war zu dieser Zeit noch eine niederländische multinationale Firma (heute stellt die Firma sich als international multinational dar). In Gesprächen mit der Konzernzentrale hatte ich immer Vorteile, dass ich Holländisch sprach, ich gehörte damit zur Familie (und in der Familie wurde entschieden).

Jahre später sah ich in Hongkong an Sonntagnachmittagen regelmäßig Tausende von philippinischen Hausangestellten in einem Park im Zentrum. Sie trafen sich dort, um ihre eigene Sprache sprechen zu können, Familien- und anderen Klatsch austauschen zu können und um mit ihrem Heimweh fertig zu werden. Englisch sprach dort niemand ein Wort.

Von Franzosen habe ich gelernt, dass für sie französische Sprache und französische Lebensart untrennbar zusammengehören. Ich erinnere mich an den Titel eines Lehrbuches "Langue et civilisation françaises".

Meine Erfahrungen in angelsächsischen Ländern bezüglich Sprachen sind vielfältiger. Am einen Ende der Skala steht Arroganz, man nimmt Fremdsprachen gar nicht zur Kenntnis oder behauptet, dass sie eigentlich überflüssig seien. Einige fühlen sich unterlegen (häufiger in England als in den Vereinigten Staaten), wenn sie keine Fremdsprachen können (siehe obige Tafelinschrift). Ein amerikanischer Freund erklärte mir: "Ich möchte gern, dass meine Tochter (Teenager) eine Fremdsprache lernt. Sie antwortet mir dann: Soll ich Spanisch lernen, damit ich mit dem Personal in Acapulco anbändeln kann? Oder Französisch, damit ich bei einer Europareise während der zwei Tage in Frankreich beim Einkauf von Andenken feilschen kann?" Diese Antwort ist ernster zu nehmen als sie scheint. Wie soll ich in einem riesigen Land wie den Vereinigten Staaten Verständnis für andere Sprachen entwickeln, wenn ich diese im Ausland als Verständigungswerkzeug nicht brauche? Trotzdem gibt es in den Philippinen pensionierte Amerikaner, die fließend Tagalog sprechen. Für sie ist die Sprache offenbar etwas anderes als nur ein Verständigungswerkzeug.

Ich bin 1939 in Dresden, also noch in Deutschland geboren. Nach der Teilung war ich dann ein "Ost-Deutscher", und als ich in der Bundesrepublik lebte "einer aus dem Osten". Nach der Wiedervereinigung bin ich wieder ein "richtiger" Deutscher geworden. Sprache und Heimatland haben in Deutschland eine komplizierte Beziehung zueinander. Dass Schweizer Deutsch sprechen, aber keine Deutschen sind, daran hat man sich in mehr als 700 Jahren gewöhnt. Dass Österreicher auch keine Deutsche sind, haben wir in knapp zwei Jahrhunderten gelernt (mit kurzen Unterbrechungen, wo manche Deutsche und auch Österreicher das nicht wahrhaben wollten). Fünfundvierzig Jahre deutsche Teilung, in denen uns eingeredet wurde, dass der Ostteil eigentlich gar nicht zu Deutschland gehöre, oder auf der anderen Seite, dass nur der Ostteil das richtige Deutschland sei, waren für eine dauerhafte Spaltung zu kurz. Welchen Beitag die gemeinsame Sprache dabei gespielt hat, lässt sich schwer abmessen. Das sie einend und nicht spaltend gewirkt hat, ist unbestreitbar.

Zum Abschluss eine letzte persönliche Erfahrung. In vier Jahren in den Niederlanden habe ich beinahe perfekt Niederländisch gelernt. Dabei hat sicher die Verwandtschaft von niederländischer und deutscher Sprache geholfen. Nach fast zwanzig Jahren in den Philippinen spreche ich immer noch nicht fließend die einheimische Sprache. Dafür gibt es sachliche Gründe, Filipino und Deutsch sind überhaupt nicht verwandt, die einzige Gemeinsamkeit sind die lateinischen Buchstaben und ein paar spanische Lehnwörter.

Die Hauptgründe sind jedoch an anderer Stelle zu suchen. Als ich in die Philippinen kam, wurde mir von meinem Arbeitgeber kein Sprachkurs angeboten und auch von mir nicht angefragt. Es hieß ja "In den Philippinen spricht jeder Englisch". Als ich dann versuchte, die Sprache zu erlernen, konnte mir die tägliche Lektüre einer gute Tageszeizung nicht helfen, da es eine solche in Filipino nicht gibt. (In Eindhoven hatte ich von Anfang an das "Eindhovens Dagblad" abonniert, um Sprache und etwas über Land und Leute zu lernen).

Mit Filipinos in ihrer eigenen Sprache zu sprechen, ist beinahe beleidigend für sie. Sie glauben, man nehme an, dass sie kein Englisch könnten. Was ich noch schlimmer finde, dass Filipinos erstaunt sind, dass ich als Ausländer überhaupt versuche, die Landessprache zu lernen, auch wenn ich schon zwanzig Jahre im Land lebe.

Als Deutscher habe ich nicht Rechnen in Russsisch lernen müssen. Stattdessen habe ich eine gute Ausbildung erhalten, und heute darf ich hier ein gutes und interessantes Leben führen. Ich fühle mich verpflichtet, den vielen Filipinos, die ich täglich in ihrer Armut und Primitivität sehe, zu einem besseren Leben zu verhelfen. Ich glaube, die Sprache kann eine scharfe Waffe in diesem Kampf sein. Ich versuche, ihnen diese Waffe zu schärfen.



Die filipinische Sprache von Armin Möller   http://www.germanlipa.de/text/tomas.html   19. Februar 2003 / 10. Juli 2011

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